Freitag, 24. Oktober 2014

Briefe des Wolfgang Ritzel betreffend Hermann Ritzel und das Jahrhundertwerk der Logik



                                                                                                 Jena, den 28. XI.
Liebe Grosseltern !

habt sehr herzlichen Dank für das inhaltsreiche Paket, es hat mich arg gefreut, wie auch der Brief, vorallem wegen den zu zu erwartenden Zwillingen !
Es stimmt, ich habe nicht an Euch geschrieben, seit ich in Freiburg war - und das kommt mir schon sehr lange vor, weil da viel dazwischen liegt in mancherlei Erlebnissen. So war auch meine Zeit stets ganz ausgefüllt; da hat sich meine Briefschuld angesammelt. - Nachdem ich von Freiburg zurück war, blieb ich ja erst noch 5 Tage zu Hause. da wurde alles für das bevorstehende Semester vorbereitet; aber gearbeitet habe ich damals noch nicht. Das Motorrad habe ich auch noch genossen -
Dann, am 21.Oktober, in aller Frühe, ging es los. ich fuhr über Jena, wo ich Bücher und was so zum Semesterkram gehört, zu Teils brachte, nach Breslau. Dort bzw im Glatzer Bergland habe ich sehr schöne zehn Tage verlebt und viele alte Beziehungen wieder aufgefrischt. Auf 1.November fuhr ich dann wieder hierher, wo das Studieren, von Pietätsgründen ganz abgesehen, schon darum für mich von Vorteil ist, weil ich als Dozentensohn kaum Kosten habe. Ich habe es aber auch sonst gut getroffen; ich bin sehr gut aufgehoben und habe es denkbar behaglich. Es gibt sicher in ganz Jena keine so schöne Bude mehr, wie ich eine habe. Die ganze Stadt liegt da unten vor meinem Fenster und gegenüber lagert sich der Jenzig  „der Berg mit dem rötlich strahlenden Gipfel“ und der Hausberg und das Bismarckdenkmal. Andrerseits ists s so still hier oben, und von der weiten Welt da draussen dringt nichts  störend zu mir herein. Vorallem spät abends und nachts, wo ich am besten arbeiten kann, komme ich mir vor wie ein Luftschiffer oder Leuchtturmwärter, einsam in der schlafenden Welt. Und an Arbeit habe ich wirklich genug; achtzehnstunden-Tage sind nicht selten obwohl ich in der ganzen Woche nur siebzehn Stunden mit Vorlesungen und Übungen belegt habe. Aber unter so guten Arbeitsbedingungen arbeitet es sich mit Freude.
Mit meinen Professoren hab ich mich recht gut gestellt. Einer von ihnen wusste von Herrmann Ritzel; er hatte dessen Doktorarbeit in einem grossen philosophischen Jahrbuch gelesen; dort wurde die Dissertation nach Hermanns Tode veröffentlicht. Ausserdem wusste er, dass ich Dozentensohn bin und schloss so auf meinen Vater, von dessen Wirksamkeit hier er noch eine ungefähre Erinnerung hatte . . . Aber dass der Vater gefallen ist, wusste er nicht. Als ich ihm das sagte, auf seine Frage, wo mein Vater jetzt sei, hat ihn das so erschüttert, wie ich nie erwartet hätte, bei einem persönlich doch ganz fremden Menschen.
„Die beiden Brüder!“ rief er und griff sich an den Kopf - da dachte ich auch „was es doch für ein grosses Erbe ist, das ich hier zu verwalten habe.
Ich will jetzt den Brief fertigschreiben, ehe ich sonst was lese, damit Ihr ihn bis Sonntag habt. Sonst würde ich gleich den Aufsatz über Martin Heideggers Kunstauffassung lesen. So leid es mir ja ist, komme ich vor den anderen vollen Aufgaben hier gar nicht dazu über Heidegger arbeiten zu können, was ich mir ja für dieses Semester vorgenommen hatte. Aber so ist es wirklich nicht möglich, diese Arbeit auch noch unterzubringen. Hätte ich noch S.-A.Dienst oder Sport zu machen, so wäre überhaupt nicht auszukommen. Aber ich lasse mich durch nichts ablenken. Allerdings führe ich es durch, neben der Arbeit mit ganz abstrakter, gedanklicher Materie immer etwas zu lesen, was Material gibt. So habe ich zur Zeit ein Buch über Napoleon vorgenommen, was ich von Siegfried zur Konfirmation geschenkt bekam; damals habe ich es nicht verstanden; aber jetzt habe ich viele Freude daran. So etwas ists ich nötig: man darf nicht nur analysieren, das ist dem Gehirn nicht gesund.
Liebe Grossmutter, die - im März in ihr 80.gehende, dafür aber immer noch regsame Frau Eigenbrod ? lässt sich, wie auch Frau Theil, für Deinen lieben Gruss bedanken und ihn erwidern. Sie erinnert sich sehr genau an Dich aus der Zeit, wo Du meine Eltern hier besuchtest. ich hätte damals im Wäschekorb gelegen.
Nun lebt wohl und seid nochmals sehr herzlich bedankt. Ich grüsse Euch und auch Hildegard und Siegfried (wenn Ihr denen mal schreibt!)  tausend mal Euer Enkel Wolfgang








Brief zum "Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung" von 1916









                                                                                                                  Jena, d.30.XI.




Liebe Mutter !
ich bin mit der zeit knauserig geworden - zum Briefeschreiber betraf es immer langer Vorstellung der Notwendigkeit des Unternehmens. Drum bekommst Du jetzt auch keinen Gruss aufs en Sonntag. Immerhin habe ich gestern auf ein inhaltsreiches Päckle von den Grosseltern hin gleich einen langen Brief losgelassen und auch der Tante Gretel (hoffentlich wird es was mit dem „zweifachen Segen“) einen Adventsgruss (aber ganz ohne christliche ??? Hinweise???) und ein kleines Büchle geschickt, ich nahm an, da würde sie eine Freunde dran haben. Bis jetzt habe ich noch nicht einmal Sport gemacht; von Tanzstunden etc überhaupt nicht zu reden. der Tag könnte doppelt so lang sein. Die vergangene Woche kam ich nid vor Mitternacht ins Bett, dreimal zwischen zwei und drei Uhr. Dafür schlief ich dann auch bis 8 Uhr - aber es ist doch ein bissel wenig Schlaf. Heute Mittag hat es sich dann gezeigt: Als ich nach dem Mittagessen im „Napoleon“ lesen wollte, konnte ich knapp 8 Seiten lang die Aufmerksamkeit aufbringen - dann fielen mir aber die Augen zu. da habe ich mich auf die Couch gelegt und habe prompt durchgeschlafen von 3 1/4 bis 3/4 7 Uhr. Und zwar obwohl sie unten Sturm geläutet haben, um mir mitzuteilen,  ich solle zum Kaffee kommen. - heute hatte ich im Proseminar bei Bauch ein Referat über Hume, Mittwoch bei Linke eines über das Problem der Evidenz in der Geschichte der Philosophie (also nächsten Mittwoch) und in vierzehn Tagen steigt eines in Bauchs Hauptseminar über ein Kapitel seiner „Grundzüge der Ethik“. Die Arbeit hierfür wird in der nächsten Zeit neben der Bearbeitung des Kantkollegs die meiste Zeit und Mühe beanspruchen. -
Weisst Du, dass die Dissertation von Hermann Ritzel nach dessen Tode in dem Jahrbuch von Husserl über „Philosophie und phänomenologische Forschung“ vom 1916 veröffentlicht wurde?
Linke sprach mich daraufhin an. Ich habe dann nachgesehen, und tatsächlich stimmt es. ich werde sie wohl morgen wieder mal in Angriff nehmen.
Leb wohl - ich will endlich mal vor Mitternacht ins Bett. Viele Grüsse und eine schöne Adventszeit Dein Wolfgang.






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