Freitag, 17. Oktober 2014

Grundkonzeption "Die Bunkernacht"






Im Herbst 2011 brachte mir mein Vater ein grosses Buch vorbei, das die von ihm abgeschriebenen, in Druck gesetzten, mit seinen Anmerkungen versehenen Feldpostbriefe meines Grossvaters Wolfgang Ritzel enthält. Mein Vater hatte dem Buch den ironischen Titel gegeben:

 „Es ist wieder eine so schöne Bunkernacht, Mutter“.

Beiläufig schlug er vor, daraus eine kleine szenische Lesung oder einen Film zu machen.
Dies ist ein Auftrag. Aber ein Auftrag, den ich selbstverständlich auch ablehnen kann.


In meiner Erinnerung hatte ich zuletzt ein Gespräch mit meinem Grossvater 1993 geführt. 
Mein Grossvater hatte es sich Anfang der neunziger Jahre zu seiner Aufgabe gemacht, mich unter seine philosophischen Fittiche zu nehmen, besser gesagt, mir schnell und doch realistisch zu einem Doktortitel zu verhelfen, der in seinen Augen allein befähigt, philosophisch zu denken und zu arbeiten.
Diese Fokussierung auf rein akademische Leistung, die, nach langen geistigen Mühen, schliesslich und endlich - für alle sichtbar -  in einen Titel mündet, den man vor dem Namen trägt, hat mich im negativen Sinn geprägt und, wie ich nun, heute, merke,  zieht es sich wie ein roter faden durch die Generationen der Familie und damit auch durch dieses Filmprojekt.

Wir - mein Grossvater und ich -  haben uns in diesem letzten Gespräch  definitiv zerstritten, es ging um den jüdischen Forscher Gerschom Scholem und dessen Verhältnis zu Walter Benjamin -
mein Anliegen war, irgendwie, den einsamen Tod, Selbstmord Benjamins und die merkwürdige Beihilfe durch Scholem dazu besser zu verstehen - während mein Grossvater erneut auf Doktorarbeit, Hans Leisegang sowie auf Hönigswald hinwies. 
Beides Denker, die dem Publikum heute nicht mehr viel sagen. Womit ich jetzt Leisegang meine und Hönigswald.
In diesem Gespräch liess mein Grossvater eine dermassne degoutante Bemerkung über Scholen fallen, dass ich mit dem Aplomb der jüngeren Generation ihm vermutlich erklärt habe, dass mir Philosophie, die Doktorarbeit und der ganze Rest gestohlen bleiben könnte.
Ich würde, so hatte ich beschlossen, nach Frankreich auswandern.

Doch das stimmt so nicht. Ich bin erst viel später die gescheiterte Textperfomererin geworden, der mein Vater nun angetragen hat, die Feldpostbriefe des Grossvaters zu verfilmen.
Bevor ich nun mit der Darstellung und Einführung des Protagonisten beginne:

Dr. Wolfgang Ritzel
geb. 1913 - 2001, Professor für Philosophie und Pädagogik, 
der bei Bruno Bauch in Jena 1937 promovierte und später nach dem Krieg in Wilhelmshaven und Bonn Philosophie und Pädagogik lehrte -

sehe ich mir noch das Dokumentenkonvolut an, die Briefe, Zettel, Notizen und Publikationen, die mein Vater und seine Schwester, meine Tante mir freundlicherweise hingeschoben haben:
der Nachlass des ehemaligen Professoren Wolfgang Ritzel,
dem, so hoffen beide
durch meine Sorgfalt und mithilfe meiner geschickten Kuratorenarbeit einen ihm gebührenden Platz als Nachlass i in einer Bibliothek gefunden und seiner dortigen Bestimmung zugeführt werden soll.
Ich weiss nicht, ob es sinnvoll ist, einer Strassenkünstlerin wie ich es bin, einen philosophischen oder literarischen Nachlass zu übergeben. Der Narr als Hüter der Tradition, die Wegfremde, die deren Rede niemand versteht, weder in Deutschland noch in Frankreich, 
ich - die niemand in die Augen sehen kann, soll nun den Weg beschreiben, den frischen Schritt in inhumane Barbarei  und in die Massaker?

Aufnahme eins:
Der Dokumentenkarton, die mit Bindfaden zusammengeschnürten wissenschaftlichen Aufsätze
und Korrespondenzen, die Plastiktüren und eingebundenen Bücher.


"Geist und Natur"-Textentwurf Wolfgang Ritzel


Mit diesem Unbehagen und dem sicheren Wissen, meinem Auftrag nicht gewachsen zu sein, schaue ich grob drüber auf den Karton, vielleicht steht er in einer Garage, einer Bahnhofstiefgarage, vielleicht steht er auch auf meinem Schreibtisch, der Ort ändert nichts an seinem verdreckten Zustand, oben auf dem Obstkistenkarton der Ordner darinnen, in dem Ordner viele kleine „opus posthumum“ bezeichnete Artikelchen. Ich finde den Briefwechsel mit Herwig Blankertz.

Blankertz war ein Schüler meines Grossvaters, dann Kollege. Professor für Sozialpädagogik. Blankertz seit vielen Jahren tot. Soviel weiss sogar ich:  Neben der Todesanzeige in diesem Ordner liegt ein Brief, wohl der letzte, den Blankertz an Wolfgang Ritzel 1983 schrieb. Im übrigen ist "Briefwechsel" zuviel gesagt. Was mir hier ins Auge sticht, ist ein Brief.

Hier denke ich, hier würde ich, bevor der Film über meinen Grossvater beginnt, hier würde ich
gerne Blankertz reden lassen. Der früheste und heftigste, leidenschaftlichste Kritiker des Philosophen, der mein Grossvater sein wollte.
„Dass ein SS-Offizier sich dem gleichen Pflichtbegriff verpflichtet fühlt wie der Hitlerattentäter Stauffenberg“ - das war für Blankertz ein Problem - mehr kann ich nicht sehen, so oberflächlich
wie ich drüberschaue. Mehr kann ich wohl auch nicht verstehen.

Aber das ist ja das Problem mit dieser akademischen Wissenschaftskonzeption - das sitzt ganz tief in einem drin, dass man glaubt, als Nichtakademiker nicht über akademische Belange reden zu dürfen (wahrer Halbsatz) und schon schliesst man daraus, dass man als Laie auch nicht über Philosophisches reden darf noch kann. Wie oft ich auch den blaugebundenen Band in die Hand nehme, der das Referat von Herwig Blankertz enthält, es ändert sich nichts an diesem Eindruck, der so zwingend ist, dass man sofort mit dem Denken aufhört.
Es ist die Geste des Nichtverstehens, die mich so an mir selber nervt.

Herwig Blankertz hatte sich, um der Frage nachzugehen, wie das nun so war mit der philosophischen und akademischen LEISTUNG meines Grossvaters, mit der Doktorarbeit auseinandergesetzt.
Die war 1937 angenommen worden, konnte aber nicht - oder nur in Teilen gedruckt werden - und erfuhr ihre erste Veröffentlichung 1952 nach dem Krieg. Ganz vorne stand drin, dass sie Siegfried Marck gewidmet sei und Jung - der war wiederum der zweite Lehrer von Blankertz gewesen, was er auch erwähnte, aber wer Siegfried Marck war, sagte er nicht.

Das namedropping ist so furchtbar an der Geschichte, kaum hat man angefangen, da hagelt es schon Namen. Man sollte mit einem Kehrichthaufen voller Namen anfangen, denke ich - (da fällt mir ein, dass jemand von der Filmförderung behauptet hatte, TITEL wären rar, irgendwann wären TITEL ausverkauft - son Quatsch, denk ich, hat der sich mal römische Vaudevilles angesehen - und was für Titel die hatten? ) aber vielleicht nicht mit einem vor Jahren gestorbenen Philosophieprofessoren.


Verschnürtes Dosser mit Briefen Bruno Bauchs, Max Wundt und Hermann Glockner
   




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