Brief Müntz z.Zt Tallin, d. 20.X.37 Narvamaantee 62 Pension Christiansen (Diktiert)
Sehr verehrter und lieber Martin Buber, Carl Theil wird Ihnen diese Zeilen eines doch nicht endgültig Verschollenen übermitteln und Ihnen einiges über unseren äusseren Schicksale berichten. Über die inneren etwas auszusagen, ist schwierig, wohl auch in diesem Augenblick zu schwer. Jedenfalls bedeutet der Abschied zugleich Rückkehr - nur die Formen dieser Rückkehr sind jetzt zu finden. Vertrauensvoll wende ich mich dabei an Sie, Fingerzeig und Rat erbittend. Gewiss will meine rein wissenschaftliche Linie noch weiterführen. So habe ich natürlich auch stark an die Universität Jerusalem gedacht, nur dass ich im Moment Gründe habe, die Häufung der dort schon vorhandenen mathematischen Kräfte, einerlei welchen Ranges, nicht noch vermehren zu wollen. Die rein materielle Existenz werde ich also wohl zunächst gezwungen sein, Anfang andere Wege zu suchen. Nach vielen Überlegungen scheint mir der folgende Weg schon jetzt denkbar: Ich habe acht Jahre hindurch mein Hochschulamt rein wissenschaftlich ausgeübt; neben den Obliegenheiten des theoretischen Lehrstuhls habe ich, sozusagen inoffiziell, noch eine mathematische Disziplin bearbeitet, deren szientistische Tiefe an sich wenig relevant sein mag, deren reale Tragweite mir aber wesentlich erschien: die soziale Versicherung. Es wäre nun mein grosser Wunsch, innerhalb der werdenden nationalen Ämter auch ein Departement für soziale Versicherung errichtet zu sehen, an dem ich angesichts meiner ganzen Vergangenheit und meiner wissenschaftlichen Erfahrung irgendwie leitend mitarbeiten könnte. Ich würde zusammen mit einem guten Praktiker (gerade an solchen fehlt es nicht) und den nötigen technischen Hilfskräften ein derartiges Amt nicht nur mit Freuden aufbauen, sondern es überdies wohl zu einem wichtigen Faktor unseres sozialen Lebens - auch in der Diaspora - gestalten können. Zumindest die gesamte theoretische Vorbereitungsarbeit für ein künftig doch unumgängliches Departement könnte u. möchte ich ausführen. Meine eigenen theoretischen Neugestaltungen auf dem genannten .....(Klecks) immer noch in den empirischen Anfängen steckende Gebiete, denen nach meinem Ermessen eine recht gewichtige praktische Bedeutung innewohnt, würde ich auf diese Weise als besondere Zugabe unserem zukünftigem Sozialministerium ebenfalls vorlegen können, gleichzeitig aber auch dem Finanzministerium, dessen Interesse an jenen Neuerungen, wie ich glaube, sogar noch grösser sein müsste: die letzteren haben nämlich auch allgemeinere wirtschaftliche und selbst privatwirtschaftliche Verwendung, nur würde ich sie äußerst ungerne in die Kanäle privater Versicherungsgesellschaften geleitet sehen. Es ist mir völlig klar, dass derartige Andeutungen, ohne jeden Beleg, an und für sich sehr? befremdend wirken. Ich äussere sie auch nur Ihnen gegenüber, voller Vertrauen darauf, dass Sie das ganze Gewicht Ihrer Kenntnis um mich dazu nehmen, um jenen abgerissenen Andeutungen wenigstens einen Teil ihres wirklichen Ernstes zu verleihen. Ich war nun die vielen Jahre hindurch, Sie wissen es, durch derart harten Zwang von der westlichen Aussenwelt abgeschnitten, dass ich im Moment nicht einmal weiss, wie weit die von mir hier angerührte Frage der Ämterbildung als spruchreif angesehen wird. Ich glaube nicht dass ich überhaupt zu spät komme; selbst in den organisiertesten modernen Staatsgebilden arbeiten die fraglichen Departements noch ziemlich aufs Geradewohl, so zweifle ich nicht, auch in unserem Falle nur Nutzen zu bringen. Vielleicht wird an den zuständigen Stellen eher die Neigung vorherrschen, die Frage nach der Errichtung des sozialen Departements als vorzeitig anzusehen. Für diesen Fall würde ich Sie bitten, mir dazu zu verhelfen, mit den betreffenden Instanzen Rücksprache nehmen zu können, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Ich bin bei mir selber sicher, dass ein solcher Effekt erzielt werden kann, ebenso dass es der allgemeinen Sache zulieb erzielt werden soll. Es wird mir eine ganz besondere Freude sein, die ersten Schritte in dieser Richtung gerade unter ihrem gütigen Beistand auszuführen. Nie verschüttet gewesene Zusammenhänge werden so nun wieder lebendig und mir ist im vielen, wie einem Schwimmer zumute, der nach sehr großer Anstrengung sich unvermutet wieder auf frühen heimatlichem Gestade sieht------- Ich habe während der Jahre drüben nicht einmal für die uns stets erfreuende Zusendung Ihrer Schriften richtig danken können, Sie kennen gewiss die allgemeinen Gründe, die eine Ausnahme nicht zuliessen: siebenjähriges Schweigen war nicht nur den Pythagoräern Pflicht - gelegentlich erfuhren wir in den Sommerpausen durch Schmalenbach und Carl Theil einiges über Ihr Schaffen und Ergehen und freuten uns ob der kontinuierlichen Fülle der Entwicklung. Seien Sie uns Beide, ebenso wie die lieben Ihrigen nach so vielen Jahren auf das Herzlichste von Haus zu Haus gegrüßt. Es verlangt uns sehr danach, auch Persönliches von Ihnen zu hören. Mit Wehmut denken wir jetzt daran, dass Heppenheim, dass der vertraute Garten nunmehr bald ihres Kostbarsten beraubt werden sollen... aber was ist das, gegen die soviel größere Linie der Zukunft gehalten. Wir sind von der tiefen Wendung auch in Ihrem Leben sehr ergriffen. Stets die Ihren Hermann u. Magda Müntz
weiteres unter:
- Eduardo Ortiz, Allan Pinkus: Chaim Müntz – a mathematicians odyssey. (PDF; 179 kB) in: Mathematical Intelligencer. Berlin 27.2005, S. 22–30. ISSN 0343-6993
- Reinhard Siegmund-Schultze: Mathematiker auf der Flucht vor Hitler. Vieweg 1998. ISBN 3-528-06993-7
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