Mittwoch, 12. Juni 2019

Hermann Glockner und Edmund Husserl

Brief Hermann Glockners an Wolfgang Ritzel mit Hinweisen zus einer Einstellung die Phänomenologie und Edmund Husserl betreffend.

Am 18.8.65

Lieber Freund!
Solche Fragen beantworte ich immer gleich und gern.
Ich beginne mit der letzten. Sie haben ganz recht: die Frage auf dem „Wert“ der Schönheit konnte ich mir als Mitglied der Rickert-Schule stellen, d.h. 1920 in meinem aus meinem Seminar-Referat herausgewachsenen Erstlingsaufsatz. Sie können darüber in der Einführung zu dem künftigen 3. Band meiner Schriften, der den Gesamttitel „Die ästhetische Sphäre“ erhalten soll, nachlesen, Der Wiederabdruck  erfolgt auch nicht ganz unverändert, sondern enthält ein paar hundert kleine Verbesserungen. Auch den hübschen Terminus „Schönschau“ gab ich preis – habe ihn aber später wieder aufgenommen im Hinblick darauf daß wir ja wohl auch immer noch vom Urteil sprechen werden, selbst wenn längst durchschaut sein wird, daß Alles und Jedes auch „in der ästhetischen Sphäre steht“ – also auch das Urteil. Von nun an betone ich den vorzüglichrationalen Charakter des Urteils, den vorzüglichästhetischen Charakter der Schönschau.
Sie können also, wenn Sie wollen, in meiner Entwicklung 4 Stufen oder Schritte unterscheiden:
1)   Die Einsicht ins Gegenständliche und vorzüglich ins Irrationale führt zu einer Bekämpfung des dualistischen Rationalismus.
2)   Das Irrationale wird mit einer gewissen Einseitigkeit herausgearbeitet: Zuerst das Aesthetisch-Ganze der Erscheinung, dann mit der gleichen Energie das Individuelle (Einzige)
3)   Konsequent rational-irrationales (gegenständliches) Philosophieren erlaubt eine Rückkehr zur gang und gäben Terminologie, da ja weder das Rationale noch das Irrationale  in der Welt isoliert vorkommt, sondern stets nur „momentan“ in den Vordergrund gerückt (akzentuiert) wird. Vorliebe für dieses oder jenes „Moment“ ist selbst individuell!

Und noch eine allgemeine Bemerkung. Da Rickerts und Hensel Neukantianer waren und kein Verhältnis zu Aristoteles hatten(auch Hensel nicht, dessen griechisch-Kenntnis fast ebenso mangelhaft war wie die Rickerts!), kann ich - ähnlich wie Ralfs – spätzu Aristoteles! Zuerst durch E. Hoffmann, dann durch eigene Arbeit über Trendelenburg- Fr. Brentano. Ich bin der einzige Neukantianer, der Trendelenburg und Brentano verehrt. In Heidelberg gabs das sonst gar nicht.
Wenn ich die Husserl-Studie (über Husserls Bedeutung für die Ästhetik) veröffentlicht hätte, von der ich in den verschiedenen noch unveröffentlichten, aber Ihnen geschickten Entwicklungsrückblicken berichte, würde man gesehen haben, daß ich der Phänomenologie viel unbefangener gegenüberstand als alle anderen Neukantianer. Aber Rickert bat mich damals,  von einer Veröffentlichung abzusehen, weil das wie ein Abrücken von ihm und vom Kantianismus aussähe. Wer damals in Heidelberg lebte und die Eifersucht und den Klatsch (aber auch das Interesse, dass man aneinander nahm!) kannte, musste ihm recht geben.
Da ich jene Husserlstudie noch besitze, überlegte ich eine nachträgliche Veröffentlichung wie beim Seelenbann. Ich konnte mich dann aber doch nicht entschließen, weil Husserl im Grunde ein viel extremerer Rationalist ist als Rickert: der reinste Reflexionsphilosoph, den es vielleicht jemals gab. Er analysiert das Anschauungsganze! Es war und ist geradezu tragisch, dass er das nicht einsah, aber er war amusisch und eingebildet, konnte gar nicht richtig Deutsch!
Zur Hauptsache zurück: Aristoteles verdanke ich dann die 3 Termini mit denen ich mich auf die Vergegenständlichungzu vergegenständlichen vermochte, nachdem ich zunächst bloß eine Gegenstandslehre aufgebaut hatte: der Moral, aber nicht die Freiheitsleistung im Aufbau des Moralls! (alternative Lesart: Das Modell, aber nicht die Freiheitsleitung im Aufbau des Modells! – NR)
Nun musste ich theoretisch und rational sorgfältig unterscheiden, während ich bis dahin theoretisch=rational gesetzt hatte.
In den beiden Frühschriften „Die ethisch-politische Persönlichkeit“ und „Begriff bei Hegel“ konnte ich die Terminologie nicht ändern; ich wies in Fußnoten darauf hin. In meinen ästhetischen Abhandlungen habe ich die Terminologin geändert. Also
rational/ästhetisch/individuell abertheoretisch/praktisch/poietisch
Früher heißt es mir
rational oder theoretisch/irrational oder atheoretisch d.h. ästhetisch und individuell

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Nun zu Ihrer erstenFrage:
Den „mittleren Standpunkt“ und überhaupt die Betonung des „Mittleren“ in meinen Frühschriften haben Sie ganz richtig aufgespürt und beurteilt. Das Konkret-Gegenständliche schwebt mir allenthalben schon vor, aber ich finde noch nicht die rechten neuen Schläuche für den neuen Wein.
Wenn ich mich recht erinnere, war ich von Herdercontra Kant ausgegangen. Herder betonte, dass der Mensch ein mittleres Wesen sei wie die Erde ein mittlerer Stern war.
Dann: Kants mittlerer = transzendentaler Standpunkt zwischen Immanenz und Transzendenz.
Dann: Schillers Aussicht von der Vermittelungsleistung des Ästhetischen zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Kategor. Imp. und Unmittelbarkeit d. schönen Seele, zwischen Naturnotwendigkeit vor allem und Autonomie = sittlicher Freiheit.
Die Künstlerfreiheit!

Es ist ein Jammer, dass Sie die neuen Fassungen nicht schon jetzt, wo Sie sich so hingebende Mühe mit den alten Originalfassungen geben, nicht sofort vergleichen können!
Vor allem aber– und das ist der Grund, aus welchen ich in meinem Briefen ab und zu ins Klagen komme und insbesondere tief bedauern muss, dass Bouvier so langsam voran macht – sollten Sie die Möglichkeit haben: die Entwicklung meiner Aesthetica unddie Entwicklung meiner Auseinandersetzung mit Kant-Rickert einerseits und Hegel andererseits zusammenzufassen; denn hier besteht Zusammenhang und gegenseitige Ergänzung. Die Aesthetica und die Hegeliana führen von verschiedenen Seiten in gleicher Weise zu Gegenständlichkeit und Freiheit als Fundamentalphilosophie und Philosoph. Anthropologie!
Über Form der Form und Urform steht in der Einführung in den Aesthetikband vieles, doch sind Sie schon weitgehend selbst auf die richtige Interpretation gekommen. „Das Dekorative“ ist natürlich besonders schwierig in die Entwicklung einzuordnen, weil ich hier zugleich aus der Fülle der künstlerischen Anschauung schöpfe, mich vom Rickertschen Formalismus erholend, unter dem ich sehr litt.Wie ich überhaupt meine „erkenntnistheoretische Schulung“ vielleicht teurer bezahlt habe als sie tatsächlich wert sein mag. Aber bei Husserl wäre für mich noch weniger Heil zu finden gewesen.
Das Porträt Fr.H. D’s als ethisch-polit. Persönlichkeit sollte ein Beispielsein, nicht bloß ein „Modell“. Ich liebtedie Diltheys, aber ich sah auch ihre Schwächen. Sie waren mir weniger „Ideal“ als die „Besten aller möglichen Menschen?“ – aber darum nicht harmonisch-vollkommen, nicht ohne Tragik, wie die ganze Welt ja auch!
Rickert sah es lieber, wenn ich über Goethe und Schiller schrieb. Er meinte: ich hätte die Carlyle’sche Heldenverehrung von Hensel und Falkenheim übernommen, was an sich gut sei – aber nun solle ich mir auch nur Persönlichkeiten erstenRanges vorzunehmen. Vielleicht hatte er recht.
Bei dem Hermes-Mythos kam es mir auch schon aufs „Zeigen“ an. Ich lege Wert darauf, dass ich das Seelenbannfragment vorOttos Göttern Griechenlands und vor Kere’nyis Arbeiten zur Mythologie (die ja erst recht halb dichterisch sind) schrieb.
Das „mythische Bewusstsein“ halte ich heute nicht mehr/nur für eine Vorstufe des „historischen Bewusstsein“, sondern für sui generis. In einem der nächsten Semester (wenn ichs erlebe! In meinem Alter schaut einem ja der Tod immer über die Achsel!) möchteich „Philosophie des Mythos“ lesen, wozu ich seit langem viel Material aufgespeichert habe. Natürlich auf Band. Dabei habe ich nun die andere neue Sorge: werwird jedesmal den Apparat montieren? Ich bin ja jetzt nicht mehr Seminardirektor und habe keinerlei Assistenz mehr zur Verfügung. Die Frau Ströker will einen Physiker zum Assistenten (ich kenne ihn noch nicht), der auch nicht zum diktieren zur Verfügung stehen wird. Ich werde mir wohl aus eigener Tasche eine Assistenz halten müssen. Ach! Man ist entsetzlich allein an einer TH! Meine Frau würde natürlich helfen, aber sie arbeitet dort selbst an ihren schönen Nürnberg-Abhandlungen. Und ihre Kraft ist nicht mehr sehr groß.
Aber – da komme ich schon wieder in die unzufriedene Emeritusweis!
Ich überlese Ihren Brief noch einmal. So viel ich sehe, habe ich in der Hauptsache alles beantworten. Diktieren Sie bitte richtig Ihre Briefe auch weiterhin – oder bedienen Sie etwa die Maschine selbst?
Ich habe das nie gekonnt. So vielgleisig ich als Philosoph bin, so eingleisig bin ich in der Aktion. Als ich Soldat war, lernte ich es nicht: zu gleicher Zeit zu grüßen und mich weiterzubewegen. Ich blieb immer dabei stehen – und wurde aus diesem Grund viele Wochen länger in der Kaserne eingesperrt gehalten wie alle anderen Rekruten. Nur so würden auch meine Gedanken stehen bleiben, wenn ich dabei Tastatur zu bedienen hätte.
Viele liebe liebe Grüße !
Ihr alter
HGL